17373_Bunsenmagazin_UHH_2014 - page 33

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Um atomare Bewegungen erfassen zu
können, werden eine Zeitauflösung von
etwa 100 Femtosekunden und eine gleich-
zeitige räumliche Auflösung unterhalb von
Angström benötigt. Zusätzlich bedarf es
einer sehr hellen Quelle, ein häufig überse-
hener Faktor, denn im Allgemeinen führen
chemische Prozesse zu unumkehrbaren
Veränderungen in der untersuchten Probe.
Insbesondere das Auslösen der betrachte-
ten Chemie selbst führt zu unumkehrbaren
Zuständen. Daher bedarf es vieler Sonden
gleichzeitig (also vieler Elektronen oder
Photonen), um kurzlebige und unwieder-
bringliche Zustände einer Probe zu erfas-
sen. All diese Bedingungen werden durch
neuste Fortschritte in der Helligkeit der von
uns entwickelten Elektronenquellen erfüllt.
Dabei wurden neue Wege zur Erhaltung der
Raum-Zeit-Korrelation in Femtosekunden-
Elektronenpulsen entdeckt (durch eine
vollständige Beschreibung der Coulomb-
Wechselwirkungen bzw. Raumladungs-
effekte in intensiven Elektronenpulsen, s.
Siwick et al. JAP 2002).
Die ersten atomar aufgelösten Filme
struktureller Dynamik, die mit Femtose-
kunden-Elektronenbeugung aufgenommen
wurden, konzentrierten sich auf struktu-
relle Übergänge in Festkörpern mit relativ
kleiner Einheitszelle (Siwick et al. Science
2003, Ernstorfer et al. Science 2009, Harb et
al. PRL 2008, Eichberger et al. Nature 2010).
Die Quellenhelligkeit wurde kürzlich weiter
erhöht und erlaubt nun auch die Unter-
suchung schwach streuender organischer
Systeme. Diese Arbeiten erlaubten es, die
enorme Reduzierung der atomaren Bewe-
Femtosekunden-Atombeobachtung:
Das Gedankenexperiment des Chemikers wird Wirklichkeit
R. J. Dwayne Miller, FRSC, FCIC
Direktor der Abteilung für atomar aufgelöste Dynamik, Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie, Co-Direktor des
Hamburg Centre for Ultrafast Imaging, Abteilung für atomar-aufgelöste Dynamik
Die Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf Experimente, die neuste Fortschritte der
Miller-Gruppe auf dem Gebiet ultraheller Elektronenquellen nutzen. Diese erlauben es buch-
stäblich, atomare Bewegung in den ersten Momenten einer chemischen Reaktion zu erhellen.
Dies bringt das klassische Gedankenexperiment der Chemie in die Wirklichkeit: die Verfolgung
atomarer Bewegungen, während ein Molekül Reaktionsbarrieren überwindet. Diese neuar-
tigen Messungen können mit der Struktur des sogenannten Übergangszustandes verknüpft
werden; letzterer existiert am Scheitelpunkt der multidimensionalen Potentialfläche, die das
chemische System definiert. Diese Information ist wesentlich zur rationalen Entwicklung von
Mitteln, mit denen Potentialbarrieren - und somit die betrachtete Chemie - gesteuert werden
können.
gungen auf wenige Dimensionen während
der Überwindung einer Potentialbarriere
zu beobachten: die vorhergesagten 200
Freiheitsgrade während des Ladungstrans-
ferprozesses in (EDO-TTF)
2
(PF
6
)- ließen sich
durch Bewegungen entlang nur dreier
Koordinaten beschreiben (Gao et al Nature
2013). Erste Studien an Zyklisierungsreak-
tionen haben eine ähnliche Reduzierung
auf wenige Schlüsselmoden gefunden.
Jedes Molekül hat seine eigene ausge-
prägte Struktur und ein damit verknüpftes
Vielkörper-Potential. Falls nun die Gleichge-
wichtsfluktuationen die relevanten Bewe-
gungen darstellten, wäre jedes Molekül ein
neues Abenteuer. Es ist jedoch die enorme
Reduzierung auf wenige Reaktionskoordi-
naten, die die Übertragung von Konzep-
ten innerhalb der Chemie erlaubt. Das
Phänomen der Reduzierung ist verknüpft
mit der Kopplung stark anharmonischer
Moden. Diese Kopplung entsteht wie ent-
fernt von Gleichgewichtsfluktuationen und
führt so zur Chemie. Mit den entwickelten
Instrumenten können wir nun die Bewe-
gungen weit entfernt vom Gleichgewicht
während der stofflichen Umwandlung
beobachten und daraus die Region um den
Übergangszustand rekonstruieren. Diese
Informationen werden als neue Grundlage
zur Verbesserung theoretischer Modelle in
der Chemie dienen und können eine neue
Grundlage in der Diskussion chemischer
Reaktionsmechanismen liefern.
Parallel hat die Miller-Gruppe Photonen-
echo-Methoden basierend auf Beugungs-
optiken entwickelt, die häufig in der kohä-
renten multidimensionalen Spektroskopie
eingesetzt werden. Diese Methode wurde
verallgemeinert, um optische Pulsformung
und kohärente Kontrolle von Quantenzu-
ständen zur Beeinflussung elektronischer
Kohärenzen zu ermöglichen, analog zur
Beeinflussung der Spin-Kohärenzen in der
Kernspin-Magnetresonanzspektroskopie
(Miller et al. Acc. Chem Res 2011). Solche
Experimente liefern Informationen über
Dynamik elektronischer Zustände, die wie-
derum über Kopplungen zwischen einem
Molekül und seiner Umgebung Aufschluss
geben.
Mit den obigen experimentellen Ansätzen
ist es nun möglich, sowohl Kern- als auch
elektronische Freiheitsgrade zu charakte-
risieren und ein vollständiges Bild der zeit-
abhängigen Wellengleichung zu erstellen.
Mittels der neuentwickelten Werkzeuge
hat sich die Forschung der Gruppe auf
wohldefinierte Systeme mit zunehmender
Komplexität konzentriert mit dem Ziel, die
Beziehung zwischen Struktur und Funkti-
on biologischer Systeme zu lösen, d.h. die
topologischen Schlüsselmerkmale in der
Struktur von Eiweißen zu bestimmen, die
während der Umwandlung chemischer
Energie in Arbeit die Funktion erzeugen.
Die einzelnen Forschungsprogramme und
Instrumente seien im Folgenden beschrie-
ben.
REGAE - Relativistische Elektronenkanone
für atomare Erkundungen (Relativistic
Electron Gun for Atomic Exploration)
REGAE ist ein gemeinsames Vorhaben der
Miller- und der DESY-Beschleunigergruppe
zur Entwicklung neuer Konzepte, ummit-
tels relativistischer Elektronen direkt ato-
mare Bewegungen zu beobachten. REGAE
ist eine einzigartige Maschine, die unter
Ausnutzung einer Rekomprimierungsein-
heit die kürzest möglichen Elektronenpulse
an die Probe liefert und für diese Bauart
die hellste Quelle ihrer Art darstellt. Das
derzeitige Design ermöglicht 7 Femtose-
kunden-kurze Elektronenpulse (RMS) mit
bis zu 10
7
Elektronen pro Puls und einer
1...,23,24,25,26,27,28,29,30,31,32 34,35,36,37,38,39,40,41,42,43,...60
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