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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts etablierte sich ein neues Wissen-
schaftsgebiet, die Physikalische Chemie.
Während die bisherigen Zweige, die
Anorganische und Organische Chemie,
analytisch, präparativ-synthetisch und die
Eigenschaften beschreibend orientiert wa-
ren, wollten Physikochemiker Hintergründe
und Ursachen des Verhaltens und der Ei-
genschaften erfassen und dies mit den von
der Physik her vertrauten Methoden und
Gesetzmäßigkeiten. Kernbereiche der Phy-
sikalischen Chemie wurden die Chemische
Thermodynamik und die Chemische Kine-
tik, weitere Teilgebiete die Elektrochemie
und die Spektroskopie. Die Physikalische
Chemie ist damit ein Fach, das zwischen
Chemie und Physik die Brücke schlägt. Im
Jahre 1887 erschien die „Zeitschrift für
Physikalische Chemie, Stöchiometrie und
Verwandtschaftslehre“, später einfach
„Zeitschrift für Physikalische Chemie“. Im
Jahre 1894 wurde die „Deutsche Elektro-
chemische Gesellschaft“ gegründet, die ab
1902 „Deutsche Bunsen-Gesellschaft für
angewandte physikalische Chemie“ hieß;
später wurde auch das „angewandte“ aus
dem Titel gestrichen, obwohl die Gesell-
schaft bis heute auch die Begegnung von
Wissenschaftlern aus der industriellen
Praxis mit denen aus den Hochschul- und
Forschungsinstituten pflegt.
Traditionell ist die Physikalische Chemie
eines der drei Haupt-Prüfungsfächer des
Chemiestudiums, während sie im Physik-
studium ein Wahlfach darstellt. Diesem
Umstand ist es zuzuschreiben, dass im Falle
organisatorischer Zuordnung das Fach eher
der Chemie als der Physik zugeordnet wird
(so 1969 an der Universität Hamburg bei
der Auflösung der Mathematisch-Natur-
wissenschaftlichen Fakultät dem Fachbe-
reich Chemie und nicht dem Fachbereich
Physik). Bei den Professoren und weiteren
Wissenschaftlern des Faches, durch die
die Forschungsgebiete bestimmt werden,
und ebenso bei den Doktoranden, die am
Institut für Physikalische Chemie ihre Dis-
sertation anfertigen, halten sich Chemiker
und Physiker in etwa die Waage. Weiterhin
ist die Physikalische Chemie Teil Hambur-
ger Forschungszentren, die formal eher der
Physik angegliedert sind. Dies beinhaltet
insbesondere den Bundesexzellenzcluster
The Hamburg Centre for Ultrafast Imaging
(CUI),
das Center for Free-Electron Laser
Science
(CFEL), einer Kooperation zwischen
DESY, der Max-Planck-Gesellschaft und der
Universität Hamburg, und Arbeitsgruppen
amMax-Planck-Institut für Struktur und
Dynamik der Materie und dem Helmholtz-
Zentrum DESY.
In den Jahren 1871/1872 wurden in
Leipzig bzw. Wien erste Lehrstühle für
Physikalische Chemie eingerichtet, und um
die Jahrhundertwende folgten viele deut-
sche Universitäten nach. Als imVorfeld der
Gründung der Universität Hamburg vom
Hamburgischen Senat 1912 bei der Bürger-
schaft der „Ausbau des Kolonialinstituts
und des allgemeinen Vorlesungswesens“
beantragt wurde, war bereits die Physikali-
sche Chemie als Abteilung des Chemischen
Staatsinstituts vorgesehen, und ihr wurden
später Räume im Physikalischen Staats-
institut zugewiesen. Bei Gründung der
Universität 1919 wurde dann
Max Volmer
aus Leipzig als Leiter der Abteilung auf eine
außerordentliche Professur berufen, die er
1920 antrat.
Max Volmer
wurde am 3. Mai 1885 in
Hilden geboren. Er studierte Chemie in
Marburg und Leipzig und promovierte 1910
in Leipzig bei
Karl Schaum.
Dort habilitierte
er sich 1913 als Privatdozent. Ab 1916 war
er am Physikalisch-Chemischen Institut
der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin
mit militärisch-bestimmten Gegenständen
beschäftigt. In diese Zeit fällt auch seine
Zusammenarbeit mit
Otto Stern,
mit dem
ihn eine offenbar lebenslange Freund-
schaft verband. (Es heißt, dass Otto Stern
nach seiner Emigration 1933 nie wieder
deutschen Boden betreten wollte, dass
er aber in den 60er Jahren seinen schwer
kranken Freund Volmer in Berlin besucht
hat.) Aus dieser Zusammenarbeit resul-
tierten die Stern-Volmer-Beziehung für die
Abklingzeit der Fluoreszenz sowie Arbeiten
über die Deutung der Nicht-Ganzzahligkeit
der Atomgewichte mit der Isotopie. In
den Jahren 1918-1920 nahmVolmer eine
Industrietätigkeit bei der Auer-Gesellschaft,
Berlin, wahr und wurde dann auf die a.o.
Professur in Hamburg berufen. Bereits im
Jahre 1922 folgte er einem Ruf auf eine
ordentliche Professur an der Technischen
Hochschule Berlin, wo er vorwiegend an
Kristallwachstum arbeitete. Von 1945-1955
musste er in der UdSSR in der Gruppe mit
Gustav Hertz am sowjetischen Atompro-
jekt arbeiten. Ab 1955 war er ordentlicher
Professor an der Humboldt-Universität in
Berlin, war in der DDR sehr angesehen und
wurde Präsident der Deutschen Akademie
der Wissenschaften. Er starb am 3. Juni
1965 in Potsdam.
Volmers Hamburger Arbeiten betra-
fen die Abscheidung von Molekülen auf
Kristallen, z.T. gemeinsammit
Immanuel
Estermann
(geb.1900 in Berlin, 1921 bei
Volmer promoviert, mit Stern in Rostock
und dann 1922 in Hamburg wiss. Hilfs-
arbeiter, 1929 Habilitation/Privatdozent,
1933 entlassen, mit Stern am Carnegie
Institute of Technology, Pittsburgh/USA,
während des 2.Weltkriegs Radar-Forschung,
dann „Manhattan-Projekt“, nach Kriegs-
ende „Professor Emeritus“ der Universität
Hamburg, 1950-1964 Office of Naval
Research, London, gest. 1973 in Haifa/
Israel). Volmer befasste sich auch mit der
Theorie des latenten photographischen
Bildes sowie technischen Verbesserungen
der Hochvakuum-Methoden, für die er
verschiedene Patente erwarb.
Noch von Volmer beantragt, wurde die
Professur 1923 in eine ordentliche Pro-
fessur umgewandelt. Auf sie wurde dann
auf Betreiben des theoretischen Physikers
Wilhelm Lenz
der in Rostock als Extraordi-
narius für Theoretische Physik tätige
Otto
Stern
berufen.
Otto Stern
wurde am 17. Februar 1888
in Sohrau (Oberschlesien) geboren. Er
studierte in Freiburg, München und Breslau
Chemie mit dem Schwerpunkt Physikali-
sche Chemie; dabei widmete er sich auch
besonders Vorlesungen und Schriften
der Physik. Er promovierte 1912 bei
Otto
Sackur
in Breslau und wurde danach Mitar-
beiter von
Albert Einstein,
der an der Deut-
schen Universität in Prag Ordinarius für
theoretische Physik war. Er folgte Einstein
1913 an die ETH Zürich und erhielt dort
mit der Habilitation die venia legendi als
Die Geschichte der Physikalischen Chemie in Hamburg
Bertel Kastening
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